Wolfgang Neuser, Kaiserslautern (Deutschland) Strukturwandel in der posttraditionellen Gesellschaft

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Wolfgang Neuser, Kaiserslautern (Deutschland)

Strukturwandel in der posttraditionellen Gesellschaft

Strukturwandel geh?rt gegenw?rtig zu den gr??ten Herausforderungen unserer Gesellschaft, das sind: Wertewandel in der s?kularen Gesellschaft, deren religi?se Tradition sich aufzul?sen scheint; Globalisierungsprozesse einer Weltwirtschaft, in der sich die Rolle der Nationalstaaten neben weltumspannenden Unternehmen als global players wandelt; moderne Kommunikationstechnik, die das Arbeitsleben in rasantem Tempo ver?ndert; soziale Spannungen und ethisch–religi?se Konflikte, die die nationale und individuelle Sicherheit bedrohen; Produktionsfortschritte, die mit Qualit?tsgewinnen und–verlusten im privaten und ?ffentlichen Leben einhergehen; u.a.

Der gegenw?rtige weltweit beobachtbare Strukturwandel muss als die Endphase einer 100–150 Jahre w?hrenden ?bergangsphase von einer traditionellen zu einer posttraditionellen Gesellschaft verstanden werden, die sich strukturell ?hnlich auch historisch in der Sp?tantike oder in der Renaissance abgespielt haben und die auch zu ?hnlichen Erscheinungen, wie der Aufl?sung politischer Hegemonialstrukturen (Zerfall des r?mischen Reichs, Zerfall der Kirchenmacht, Reorganisation Europas in Konkurrenz zu dem USA), Niedergang kultureller Traditionen und ihrer Ersetzung durch andere (Christianisierung statt lokaler Priester, Rationalismus und Empirismus statt Aristotelismus), der Umwertung von ethischen Normen (Betonung der Subjektverantwortung), oder kriegerischen Auseinandersetzungen (Vandaleneinf?lle, B?rgerkriege und Terrorismus) gef?hrt haben. Sie haben auch eine struktur?hnliche Ursache.

Auch wenn die politisch–gesellschaftlichen Umbr?che auf den ersten Blick der Motor dieses Wandels zu sein scheinen, stellen sie jedoch nur Erscheinungsformen einer Ver?nderung der Gesellschaft dar, die ihren Grund in der ?nderung von Verstehensprozessen in der Gesellschaft haben — wie ich im folgenden zeigen will.

Ich will die Instrumente entwickeln, diese Verstehensprozesse ihrerseits zu verstehen und zu analysieren, um den Strukturwandel und die Auswirkungen des Strukturwandels auf den Wertewandel und die unternehmerische Wertsch?pfung begreifen zu k?nnen, um eine angemessene Reaktion auf den Strukturwandel konzipieren zu k?nnen und um deren Umsetzung im Unternehmenskontext skizzieren zu k?nnen.

1. Verstehenssubtitlerozesse der Gesellschaft

In der gegenw?rtigen Gesellschaft l?sst sich ein Strukturwandel beobachten, dessen Erscheinung von wirtschaftlichen Ver?nderungen ?ber technologische Ver?nderungen bis hin zur Annahme eines Alterungsprozesses einer Zivilisation reichen, die aber ihren Grund in der ?nderung von Verstehensprozessen der Gesellschaft haben. Diese Ver?nderungen folgen aus Handlungen, die auf den ver?nderten Auffassungen davon beruhen, wie und welche wirtschaftliche Zusammenh?nge die Gesellschaft pr?gen, oder wie und welchen technischen Zusammenh?nge n?tzlich f?r die Gesellschaft sind, oder welchen moralischen Regeln eine Gesellschaft folgen will oder sollte.

Was sind «Verstehensprozesse der Gesellschaft“, die sich ?ndern? K?nnen nicht nur individuelle Menschen verstehen, sondern ganze Gesellschaften? Sicher geht das Verstehen von Sachverhalten von Individuen aus. Verstehen hei?t aber, dass Zusammenh?nge begriffen werden und dann mit anderen Menschen kommuniziert werden.

Diese begrifflichen Zusammenh?nge, die das Verstehen ausmachen, k?nnen nicht beliebig sein; sie m?ssen einen breiten gesellschaftlichen Konsens anstreben, weil sie nur dann kommunizierbar sind.

Einzelne Begriffe sind normalerweise dabei immer ohne gr??ere R?ckwirkungen auf den Konsens wandelbar, weil ihre Ver?nderung kommuniziert werden kann. Aber das Gros der Begriffe, zumindest aber sehr grundlegende Begriffe, deren ?nderungen wertreichende Bedeutung f?r das Verstehen von Welt h?tte, verhalten sich tr?ge gegen?ber Ver?nderungen. Ihre Ver?nderungen werden von der Community nicht problemlos akzeptiert. Durch diese nur in mittleren Zeitskalen ver?nderbaren Begriffen, an denen fast alle Mitglied einer Verstehensgemeinschaft teilhaben, kann man so etwas wie Rahmenbedingungen f?r ein m?gliches Verstehen von Welt, das einer Gesellschaft zur Verf?gung steht, konstatieren. Da das spezielle Begriffsgef?ge, das zur Verf?gung steht, das Verstehen in der Gemeinschaft beschr?nkt, kann und wird nicht jederzeit von einer Gesellschaft jeder m?gliche Gedanke gedacht werden, sondern nur die, die im Kontext der in einer Zeit genutzten Begriffsgef?ge formulierbar sind.

Jeder Strukturwandel einer Gesellschaft gr?ndet im Wandel der dem Weltverst?ndnis in der Gesellschaft zugrundeliegenden Begriffsgef?ge und damit der Handlungen, die aus diesem Weltverst?ndnis abgeleitet werden. So kann man durch eine philosophische Untersuchung den Status des Verstehens einer Gesellschaft konstatieren, indem man die Ver?nderungen der Begriffe und ihres Kontextes untersucht, nach Gesetzm??igkeiten forscht, die hinter den Ver?nderungen der Begriffsgef?ge stehen, und dann m?gliche zuk?nftige Entwicklungen der Begriffsgef?ge vorhersagen.

Die Gegenst?nde jeder philosophischen Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels sind daher die grundlegenden Begriffe einer Zivilisation, deren Wandel eine tiefgreifende ?nderung des Weltverst?ndnisses, der Orientierung in der Welt und der Wertungen des Handelns nach sich zieht. Wenngleich dieser Wandel in den meisten historischen Zeiten kontinuierlich, nur f?r den aufmerksamen Beobachter merklich ist, und mit geringen Ver?nderungen geschieht, so gibt es doch immer wieder historisch hervorragende, relativ kurze Zeitr?ume (100 bis 150 Jahre), in denen akzelerierend Begriffe und damit Weltverst?ndnisse ge?ndert werden und die zu einer weitgehend neuen Sicht der Welt und damit neuen Begriffsgef?ge f?hren. Diesen Wandel bezeichne ich als den ?bergang von einer traditionellen Gesellschaft zu einer posttraditionellen Gesellschaft.[7]

Diese posttraditionelle Gesellschaft ist eine transeunte und sehr labile Kulturform, die, wenn sie zu ihrem Ende hin zu einer in sich gef?gten stabileren Gesellschaftsform gef?hrt hat, wieder zu einer nun neu gef?gten traditionellen Gesellschaft f?hrt.

Wir leben heute in einer solchen posttraditionellen Gesellschaft und ihr Studium kann uns zu einer erh?hten Aufmerksamkeit f?r die Entwicklungsm?glichkeiten auf eine zuk?nftige traditionelle Gesellschaft hin f?hren.

2. Was charakterisiert eine traditionelle Gesellschaft?

Der gesellschaftliche Wandel, von dem im folgenden die Rede sein soll, hat sich in der Geschichte des Abendlandes zweimal vollzogen und ist zur Zeit wieder im Gange: Diese historischen posttraditionellen Phasen sind die Sp?tantike und die Renaissance. Die traditionellen Phasen sind also vom Typ der antiken Gesellschaft, der mittelalterlichen Gesellschaft und der Gesellschaft der Neuzeit.

Traditionelle Gesellschaften wandeln sich demnach durchaus, aber so, dass ihr grunds?tzliches Weltverst?ndnis in kleinen Zeitr?umen nicht wesentlich ge?ndert wird. Kriegerische, wirtschaftliche Ereignisse und epidemische Krankheiten k?nnen in der traditionellen Gesellschaft zu gravierenden soziologischen Verwerfungen f?hren, sie ?ndern jedoch nichts an der Stabilit?t der Begriffsgef?ge und daran, dass die Gesellschaft «philosophische Stabilit?t“ beh?lt.

Stabil ist die traditionelle Gesellschaft, im philosophischen Sinne, weil die Art, wie die Welt erkl?rt wird, welche Fragen man an die Welt stellt oder welches Wissen man ?ber sie hat, unver?ndert bleibt, und weil der Erfahrungsraum, die Summe der Erfahrungen, die der Welterkl?rung zugrunde liegen, ?ber jedem kleineren Wandel unver?ndert bleiben und deshalb auch das Handeln der Einzelnen und der Gesellschaft in einem ?hnlichen Rahmen verbleibt.

Unver?ndert bleibt dies, weil die grundlegenden Begriffe unver?ndert bleiben, und dies geschieht, weil das Gef?ge von Welterkl?rung und Erfahrung sowie Handeln konsistent bleibt und keine nennenswerten Widerspr?che oder Unentscheidbarkeiten im Handeln auf Grund der Erkl?rung der Erfahrung auftreten. Die Menschen empfinden ihr Verhalten dann als nicht mit ihrem Wissen konfligierend.

Insofern existiert ein stiller und nicht abgesprochener Konsens. Im Rahmen einer geringf?gigen Variabilit?t sind Handlungen konsent, oder es ist wenigstens konsent, dass und welche Handlungen auf keinen Fall akzeptiert werden sollen. Ver?nderungen im Verst?ndnis sind in das bestehende Begriffsgef?ge integrierbar. Im allgemeinen herrscht in der traditionellen Gesellschaft keine Uneinigkeit ?ber Bewertungen oder Werte.

Mit dem sehr weitgehenden homogenen Verst?ndnis von Welt geht damit eine weitgehende ?bereinstimmung von Werten, Normen und deren Begr?ndung bzw. Rechtfertigung einher. Die traditionelle Gesellschaft tradiert ihre Kultur ?ber mehrere Generationen unver?ndert; Begrifflichkeiten, Werte und Normenbegr?ndung wandeln sich au?erordentlich langsam und sind deshalb ?ber gro?e Zeitr?ume weitgehend stabil. Ja, die Stabilit?t von Begriffen und Werten ist selbst ein Wert der traditionellen Gesellschaft.

Auch in der traditionellen Gesellschaft werden Beobachtungen, Entdeckungen und Erfahrungen gemacht, die ?ber den ?berlieferten Erfahrungsraum hinausgehen. Solange sie durch geringf?gige ?nderungen von Begriffen integriert werden k?nnen und auf die ?nderung einzelner Begriffe beschr?nkt bleiben, wird dies die traditionelle Gesellschaft nicht ?ndern. Zu ihrem zeitlichen Ende hin treten aber in der traditionellen Gesellschaft ?nderungen auf, wenn grundlegende Begriffe ge?ndert werden und in der Folge davon zunehmend weitere Begriffe ge?ndert werden m?ssen, um eine innere Konsistenz der Erkl?rungen des Erfahrungsraumes zu erreichen. Dann wandeln sich auch Normen. Insbesondere gilt es dann nicht mehr als akzeptabel, Begriffe, Werte und Normen stabil zu halten. Stabilit?t — im philosophischen Sinne — gilt nun nicht als ein w?nschenswerter Wert. «?nderung“ wird mehr und mehr zu einem angestrebten Wert. Das scheint unmittelbar plausibel, weil dann, wenn neue Erfahrungen oder neue Erweiterungen des Erfahrungsraumes zwingen, auch die erkl?renden Begriffe und die bewertenden Normen zu ?ndern, und insbesondere, wenn die Begriffe, die von den bereits ge?nderten grundlegenden Begriffen nachrangig abh?ngig sind, ihrerseits ge?ndert werden m?ssen, um Inkonsistenzen der Erkl?rung zu vermeiden, dann liegt das einzige stabilisierende Verhalten der Verstehensgemeinschaft Nachkorrigieren und ?ndern von Begriffen und Werten: Das «?ndern“ und die «Bereitschaft zum Umdenken“ werden stabilisierende Werte. Dann aber befinden wir uns bereits auf dem Weg zu einer «posttraditionellen Gesellschaft“.

3. Was charakterisiert die subtitleosttraditionelle Gesellschaft?

Die posttraditionelle Gesellschaft ist – philosophisch gesehen – eine Kulturform, die in einem engen Zeitraum von wenigen (100–150) Jahren die vollst?ndige Umstellung eines Erkl?rungskonzeptes von Welt vollzieht – und zwar f?r alle Existenzbereiche, die als erkl?renswert angesehen werden. Dabei wird auf einen Teilbereich des bisherigen Erfahrungsraumes verzichtet, und es bleiben Ph?nomene, die man zuvor mit dem alten Erkl?rungskonzept erkl?ren konnte, unerkl?rt. Das neue Erkl?rungskonzept einer zuk?nftigen traditionellen Gesellschaft wird in der posttraditionellen Gesellschaft vorbereitet, und die Zeit der posttraditionellen Gesellschaft markiert den ?bergang von einem fr?heren zu einem vollst?ndig neuen Erkl?rungskonzept.

Es ist die Aufgabe der posttraditionellen Gesellschaft, die in Inkonsistenz geratenen Erkl?rungskonzepte f?r die vorhandenen Erfahrungen in einen neuen stabilen Zustand, d.h. zu neuen Erkl?rungskonzepten zu f?hren.

Damit ist die posttraditionelle Gesellschaft davon gepr?gt, dass kein einheitliches Erkl?rungskonzept akzeptiert wird, wohl aber eine Vielzahl von Versuchen, Konsistenz zwischen Erkl?rung und Erfahrungen zu schaffen, nebeneinander existieren.

Es ist deshalb auch eine gr??ere Toleranz gegen?ber ausgefallenen Konzepten notwendig und ?blich. Damit geht einher, dass es nur einen geringen Konsens ?ber allgemein g?ltige Erkl?rungen und Werte gibt. Wenn es ihn gibt, dann nur in soziologisch umschreibbaren engen Gruppen. Nur f?r wenige Fragestellungen haben diese Gruppen eine Identit?t. Die ?brigen Erkl?rungen und Werte werden von den einzelnen Mitgliedern einer Verstehensgemeinschaft in der posttraditionellen Gesellschaft nicht immer als konsistent erlebt. Begriffe und damit die Erkl?rungskonzepte wandeln sich st?ndig. Bildungssysteme k?nnen bereits w?hrend ihrer Entwicklung und Modifikation veralten. Der Begriffs–und Wertewandel akzeleriert.

Die Tradierung von Wissen und Bildung wird nicht mehr ?ber mehrere Generationen gef?hrt, sondern kann sich punktuell in der gleichen Generation zu unterschiedlichen, ja sich ausschlie?enden Konzepten wandeln.

Wenn die posttraditionelle Gesellschaft zu konsistenten f?r alle Erfahrungsbereiche konvergenten Erkl?rungen und Begriffen kommt, f?hrt sie vorw?rts in eine traditionelle Gesellschaft, die sich aber grundlegend von derjenigen unterscheidet, von der diese posttraditionelle Gesellschaft startete.

4. Was bewirkt den Wandel? Was macht den Strukturwandel aus?

Die Kultur einer Gesellschaft ist wesentlich davon getragen, wie Erfahrungen, deren theoretische Erkl?rung und das daraus folgende Handeln miteinander verbunden werden.

Dem Alltagsleben, wie auch der Wissenschaft, sowohl den Geistes–als auch den Naturwissenschaften, liegt ein Beziehungsgeflecht von Erfahrung, Erkl?rung und Handeln zu Grunde, die sich nicht einzeln konstituieren, sondern immer nur in ihrem Verbund sind, was sie sind. Durch Handeln erwerben wir Erfahrungen, die nur deshalb, weil wir ihnen – implizit oder explizit – eine Erkl?rung zugrunde legen, erfahrbar sind. Erfahrungen aber gehen auch jeder Handlung voraus, die wir nur vollziehen, weil wir aus unserer bisherigen Erfahrung und deren theoretischer Erkl?rung erwarten d?rfen, dass sie zuk?nftig ein bestimmtes Resultat bewirken. Die theoretischen Erkl?rungen m?ssen jeder Handlung vorausgehen, damit wir das Handlungsresultat ?berhaupt als Resultat unserer Handlung und damit als Grundlage und Prognoseinstrument f?r weitere Handlungen verstehen k?nnen. Das Zusammenwirken konsistenter Handlung, Begriffen und Erfahrung, die immer zugleich auftreten, ist grundlegend f?r jede menschliche Existenz. Vorausgesetzt wird dabei nicht, dass die Konsistenz?berlegungen bei jeder Handlung im einzelnen rational vollzogen werden, vielmehr gilt f?r die allt?glichen Handlungen, dass sie routiniert ?ber eingefahrene Schemata ablaufen. Fast immer verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, weil wir uns in vergleichbaren Situationen schon immer so verhalten. Wir k?nnen dieses Verhalten ex post erkl?ren und eine Konsistenz sowohl mit den ?brigen Erkl?rungskonzepten, den Begriffen, die wir haben, feststellen, als auch mit den ?brigen Erfahrungen, die uns pr?sent sind und deren Erkl?rung die Koh?renz unserer Handlungen ?berpr?fbar macht.

Das, was die koh?renten Einzelelemente unseres Wissens sind, macht kontinuierliche R?ume aus: den Erfahrungsraum, den Handlungsraum und das Gef?ge der zu Theorien verdichteten Begriffe. W?hrend jeder ihrer Handlungen freilich ?berpr?fen Individuen implizit ihre Schemata und ver?ndern sie geringf?gig. Dies geschieht, wenn unser Erfahrungsraum erweitert wird. Wenn wir h?ufiger Erfahrungen machen, die uns so bislang nicht bekannt sind, suchen wir nach neuen Erkl?rungen, um m?gliche zuk?nftige Handlungen vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen absehbar zu machen. Wir erweitern unseren Erfahrungsraum. Zun?chst sucht man in dem bestehenden Wissensbestand, ob f?r diese Erfahrungen bereits von anderen Individuen der Verstehensgemeinschaft Erkl?rungen (Begriffe) bekannt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird f?r die Erfahrung, wegen der m?glichen sich daraus ergebenden Handlungen von Individuen, eine neue Erkl?rung oder neue Begriffe gesucht. Wenn dar?ber hinaus diese den Kulturtr?gern der Gesellschaft interessant genug erscheint, d?rfen wir erwarten, dass diese ver?nderten Erkl?rungen hinreichend in der Gesellschaft kommuniziert werden und zum Allgemeingut werden. Die «Gesellschaft“ hat wieder etwas neu verstanden. Dies kann aus allen Kulturbereichen heraus geschehen und in allen Kulturbereichen beginnen. Dieser Wandel z?hlt zu dem Alltagsgesch?ft des Versehens in der traditionellen Gesellschaft.

Geringf?gige ?nderungen vertr?gt das Erkl?rungssystem, d.h. das Gef?ge von Begriffen und Theorien, ohne dass es als ein neues Erkl?rungskonzept erscheint, denn Modifikationen von Bedeutungen und Bewertungen sind Teil des aktiven Verstehens. Begriffe, und das sind die Elemente der Erkl?rungskonzepte, sind – in Grenzen – bedeutungsunscharf ausgelegt. Mit jedem Begriff denken wir eine explizite Bedeutung und einen impliziten Bedeutungsgehalt. Die explizite Bedeutung bezeichnet den gedachten Sachverhalt. Der implizite (oder latente) Bedeutungsgehalt enth?lt Hinweise auf Konnotationen, Kontexte, und Verwendungsm?glichkeiten, unter denen wir die Begriffe konsistent mit der Erfahrung und anderen Begriffen nutzen d?rfen. Auch eine Bewertung wird mit dem Begriff verbunden: Unter dieser Werthaltung assoziieren wir den Rang des Begriffs in der Begriffshierarchie der Erkl?rungen und auch die Wertigkeit, die die Erkl?rung f?r eine m?gliche Handlung aufgrund der in diesem Begriff enthaltenen Konsequenz hat.[8]

Alle drei Aspekte, die explizite Bedeutung, der implizite Bedeutungsgehalt und die Werthaltung haben wir auf einen Schlag vor unserem Denken, wenn wir Schemata, die auf dem oder den Begriffen beruhen, bei einer Handlung folgen. Dabei erlauben die Begriffe geringe Bedeutungsverschiebungen, deren Grenzen durch den impliziten Bedeutungsgehalt (Kontext, Konnotation) gegeben werden. Wir k?nnen und werden wegen dieser Zusammenh?nge Handlungen aufgrund von ?hnlichkeiten zu fr?heren Handlungen ausf?hren, weil unsere Erkl?rungskonzepte auf diese zuvor unbekannten ?hnlichkeiten hin orientiert sind. Die Grenzen der ?hnlichkeitsbestimmung werden durch den impliziten Bedeutungsgehalt der Begriffe gegeben.

Mit einem Wandel des Erfahrungsraumes muss daher ein Wandel der Handlungen und der Begriffe einher gehen. Dies ist der Verstehensprozess in der traditionellen Gesellschaft. Dieser «normale“ Wandel von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgef?ge unter dem allt?glichen Verstehen wird in der traditionellen Gesellschaft ?ber viele Jahrhunderte ablaufen, um Neues handhabbar zu machen.

Erst wenn die Erfahrungen, die man macht, ?berhaupt nicht mehr im bestehenden Begriffsgef?ge erkl?rbar sind, und damit Handlungen eher einem Wunder ?hneln, als einem absehbaren Vollzug absehbarer Folgen, dann bedarf es der ?nderung grundlegender Begriffe und grundlegender Erkl?rungskonzepte. Dies hat dann m?glicherweise zur Folge, dass alle oder fast alle Begriffe ge?ndert werden m?ssen. Das hat dann auch zur Folge, dass der Erfahrungsraum einer Gesellschaft sich verschiebt. Manches, was bislang erkl?rbar war, ist dann mit dem neuen Begriffsgef?ge nicht mehr erkl?rbar, was allerdings nicht bedauert wird, weil man diese (alten) Erfahrungen auch nicht mehr erkl?ren will. Der Erfahrungsraum und der Handlungsraum sind eben v?llig ver?ndert. Dieser akzelerierende Wandel von Begriffen und Werten f?hrt zu einer Vielzahl von Erkl?rungsversuchen, die aber der Konsistenz–und Koh?renzforderung von Handlung und Erfahrungsraum auf die Dauer nicht alle stand halten k?nnen. Die Phase, in der dieser akzelerierende Wandel vollzogen wird, ist die Phase einer posttraditionellen Gesellschaft. Sie beginnt mit einer Zunahme der Geschwindigkeit des im ?brigen unproblematischen Wandels von Erfahrungsraum, Handlungsraum und deren Erkl?rungskonzepte den Begriffsgef?gen. Die posttraditionelle Phase endet mit einem neuen koh?renten und konsistenten Gef?ge von Erfahrungsraum, Handlungsraum und Begriffsgef?gen. Sie f?hrt dann zu einer neuen traditionellen Gesellschaft, die den vorherigen traditionellen Gesellschaften nicht mehr ?hnelt.

5. Was k?nnen wir f?r den Wertewandel in der subtitleosttraditionellen Gesellschaft daraus schlie?en?

Unser zentrales Instrument zur Beschreibung des Strukturwandels in der philosophisch erfassten posttraditionellen Gesellschaft ist f?r den Philosophen der Begriff, der f?r einen Augenblick das Gef?ge aus Erfahrung, Handeln und Erkl?ren festh?lt. Auf ihm beruht unser Wissen und aus ihm folgt unser Handeln, wie er seinerseits auf unserem Vorwissen und unserem fr?heren Handeln beruht. Mit unserem Handeln verbinden wir Wertungen, die wir entweder unmittelbar mit diesem Handeln verbinden, oder die wir in der Reflexion mit einem m?glichen und projektierten Handeln verbinden wollen. Unter Umst?nden ist uns unmittelbar einleuchtend, eine Handlung zu begehen oder zu unterlassen. Unter Umst?nden wird uns dies aber auch erst nach einer l?ngeren und ausf?hrlicheren Reflexion oder auch Kommunikation einleuchtend und erstrebenswert. Sowohl bei unmittelbarer als auch bei mittelbarer Adaptation von Bewertungen mit Handlungen oder Handlungsfolgen verbinden wir die Werte mit Schemata, die unser Handeln steuern. Mit den einzelnen Begriffen, auf denen Schemata beruhen, verbinden wir ja Werthaltungen. Selbst wenn wir auf Grund einer Gesinnungsethik unsere moralischen Ma?st?be entwickeln, kann das doch nur geschehen, weil diese Wertma?st?be im Kontext mit unserem Weltverst?ndnis fest mit Schemata verbunden. Sie sind Teil unserer Begriffe, die unseren Erfahrungsraum erkl?ren und unser Handeln steuern. Mit dem Begriff verbinden wir einen expliziten Bedeutungsgehalt, der uns eine Zuordnung an einen materialen Referenten markiert, einen impliziten Bedeutungsgehalt, der uns sagt, welche Kontexte mit dem expliziten Bedeutungsgehalt gemeint sind oder gemeint sein k?nnen. Der Kontext referenziert auf eine Abstraktionsgeschichte des Begriffs, insofern bei Begriffen zun?chst unmittelbare Handlungszusammenh?nge gemeint sind, und dann in einer Anwendungsgeschichte ?bertragungen dieser Zusammenh?nge vorgenommen werden, wobei der Begriff von dem urspr?nglichen Kontext abstrahieren mag. Damit verbunden liegt im Begriff, eine Werthaltung vor. Diese Werthaltung kann an den urspr?nglichen Erkl?rungskontext gebunden sein, oder auch an eine sp?tere Verwendungsgeschichte des Begriffs. Die Werthaltung mag an den expliziten oder den impliziten Bedeutungsgehalt gebunden sein; sie mag bei einem bestimmten Begriff ver?nderbar oder unver?nderbar sein. In jedem Fall sind alle Begriffe emotiv ?ber diese Werthaltung gebunden. Je st?rker die Werthaltung an einen expliziten Bedeutungsgehalt gebunden ist, um so weniger ist der Begriff ver?nderbar und umso folgenschwerer f?r das gesamte Weltbild einer Gesellschaft sind ?nderungen an diesem Begriff, dessen expliziter Bedeutungsgehalt unmittelbar mit einer Werthaltung verbunden ist.

In der philosophisch als traditionell aufgefassten Gesellschaft sind die Wertungen in hohem Ma?e feststehend und auch an bestimmte Bedeutungsgehalte gebunden. Verschiebungen der Wertungen finden selten statt. Ethische Normen, nach denen sich unsere moralischen Ma?st?be, d.h. unsere Regeln f?r unser Handeln orientieren, sind fest mit den Schemata verbunden. Die posttraditionelle Gesellschaft wird dadurch charakterisiert, dass der Wandel von Bedeutungsgehalten und Werthaltungen von Begriffen nicht in gro?en Zeitskalen geschieht, wie in der traditionellen Gesellschaft, sondern akzelerierend erfolgt – und zwar so schnell, dass eine langfristige G?ltigkeit von Werten und Bedeutungsgehalten von Begriffen nicht mehr erlebt wird.

Normen kollabieren unter diesen Bedingungen schlie?lich rasch; niemand vermag sie mehr als dauerhaft geltend und bindend zu erleben. Da aber ohne Werthaltung niemand verstehen und niemand handeln kann, werden individuelle Substitute f?r die begrifflichen Werthaltungen gesetzt, f?r die ein gesellschaftlicher Konsens aber nicht erreicht werden kann. Dies hat meist auch soziale Verwerfungen in der Gesellschaft zur Folge.

Da in der posttraditionellen Gesellschaft die Dynamik und der Wandel selbst zu einem Wert wird, wird es sogar dazu kommen, dass der Wertewandel als ein Wert angesehen wird: Der Tabubruch wird zum Wert der posttraditionellen Gesellschaft. Die Kultur, die zuvor Tr?ger einer konsenten Erkl?rung und Bewertung in der traditionellen Gesellschaft war, wird nun in der posttraditionellen Gesellschaft davon gepr?gt, dass sie im Tabubruch die Geltung noch bestehender und u. U. nicht mehr koh?renter Werte bewusst macht und einer expliziten Reflexion unterzieht — wie Filmindustrie und Literatur heute augenf?llig machen. Die technischen und naturwissenschaftlichen Neuerungen, die auch mit dem Begriffswandel in der posttraditionellen Gesellschaft einhergehen, haben zus?tzlich zur Folge, dass Wertsetzungen und Werthaltungen mit den (neuen) Begrifflichkeiten des ver?nderten Erfahrungsraums kollidieren. Die Anwendung von ansonsten akzeptierten ethischen Normen wird dann zu einem Problem, wie wir z. B. in der Medizin und der Gen–und Biotechnologie heute erleben.

6. Welche Aufgaben ergeben sich daraus f?r eine Ethik?

Die Ethik ist die wissenschaftliche Disziplin, die die methodischen Instrumentarien zur Verf?gung stellen, um einer Gesellschaft rationale moralische Kriterien an die Hand zu geben. Die Ethik entwickelt als wissenschaftliche Disziplin Normen des Verhaltens und begr?ndet diese Normen und spezifiziert deren Beziehungen untereinander. Ethik ?berpr?ft und schafft Konsistenz unter den Normen. Die geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes (Recht und Moral) m?ssen widerspruchsfrei anwendbar sein, wenn sie Handlungen leiten sollen. Die darin liegenden Beziehungen zwischen Normen im Bereich von Sitte, Sittlichkeit und Moral auf der einen Seite und des Rechts auf der anderen Seite sind in der sp?ten oder alten traditionellen Gesellschaft in aller Regel koh?rent und widerspruchsfrei. Dort, wo sie es nicht sind, wird nachkorrigiert werden, damit das intuitive Rechtsempfinden in Gleichklang mit der Moral kommt. Die wissenschaftliche Disziplin, die in der traditionellen Gesellschaft diese Koh?renz der religi?sen oder weltanschaulichen Normen in aller Regel zeigt und sicherstellt, ist die Ethik. Ihre Aufgabe beschr?nkt sich auf die Pr?fung der Koh?renz der Normen. Die weitgehend konsenten Normen m?ssen nicht geschaffen werden, sondern allenfalls explizit dargestellt werden. Als konsente Normen erscheinen sie aber in der traditionellen Gesellschaft als weitgehend unver?nderbar und nicht hintergehbar.

In der posttraditionellen Gesellschaft fehlen fast immer in gro?em Ma?e die Normen selbst. Jetzt wird die Begr?ndung und Schaffung von Normen zur zentralen Aufgabe der Ethik. Die ethische Herausforderung liegt in der posttraditionellen Gesellschaft, darin, dass der Wandel der Werte, die Normverletzung, der Tabubruch, nun zum Wert wird, und Normen allenfalls zeitweilig Geltung gewinnen, sofern sie begr?ndet werden k?nnen. Die Ethik hat also in der posttraditionellen Gesellschaft neben der Pr?fung der Normenkoh?renz zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Kodizes die Aufgabe, Normen selbst zu entwickeln und zu begr?nden.

Im Bereich der Wirtschaft ist diese Struktur der posttraditionellen Gesellschaft u. a. als Akzeptanzproblem in vielf?ltiger Weise virulent: Lebenslanges Lernen ist erforderlich, um dem Wandel der wissenschaftlich–technischen, organisatorischen Normen bis hin zu den kommunikativen Normen bew?ltigen zu k?nnen; und die Diskussion um Globalisierung, Wirtschaftsstandort und Sozialversicherungsstandards sind «Verstehensprozesse einer Gesellschaft“ im Kontext von Werthaltungen. So werden sie Gegenstand der Untersuchungen der Ethik. Um ihre Begr?ndung und Schaffung bem?ht sich in der posttraditionellen Gesellschaft die Ethik. Bei allem Normenwandel bleiben diese Verstehensprozesse selbst innerhalb philosophisch begr?ndeter Begriffsrahmen — im Sinne unserer obigen Darstellung — rational verankert. Deshalb bietet die Wirtschaftsethik eine Chance: Ein Unternehmen kann — bei aller gesellschaftlich gebotenen Flexibilit?t — damit eine Stabilit?t hinsichtlich der Verbindlichkeit der individuellen und kollektiven Handlungen trotz des Fehlens eines allgemeinen Normenkonsenses erreichen, indem es sein eigenes Wertesystem individuell in der posttraditionellen Gesellschaft formuliert und seinen Partnern gegen?ber garantiert. Dieses System von Werten muss eine Reihe nicht leicht zu erreichender Bedingungen erf?llen: Der zu erwartende Wertewandel muss so antizipiert werden, dass das Wertesystem nicht schon ?berholt ist, wenn es im Unternehmen konsent eingef?hrt ist. Gleichzeitig muss es verbindlich sein. Da der Konsens ?ber die Werte in der posttraditionellen Gesellschaft nicht trivialerweise zu erlangen ist, muss eine Beteiligung aller Betroffenen bei der Formulierung der Werte sichergestellt sein, ohne die Funktion der Werte in den Handlungsfolgen aus dem Auge zu verlieren. Die Koh?renz der Werte, auch mit den nationalen und internationalen Rechtssystemen, sowie den Handlungsr?umen der Mitbewerber muss bedacht sein.

Um dies alles zu erreichen, entwickelt die Philosophie die angemessenen methodischen Instrumente.

Філософія. Культура. Життя.

Вип. 22, Дніпропетровськ, 2003.